Gubener Verfolgerfall – Versuchte Körperverletzung mit Todesfolge (BGH, Urt. v. 09.10.2002 – 5 StR 42/02)
- Posted by IUDICUM
- Zugang Klassiker Urteile, Strafrecht
Relevanz
Die Prüfung des § 227 StGB gehört nicht zu den Dauerbrennern von strafrechtlichen Klausuren, jedoch kann ein scheinbar unbedeutender Sachverhalt einige Tiefen mit sich bringen, deren Überwindungstaktik es zu beherrschen gilt. Die zugrundeliegende Originalentscheidung des BGH wies einige juristische Problematiken auf; der Einfachheit halber gehen wir aber nur auf die für § 227 StGB relevanten Umstände ein.
Sachverhalt
Nach einer Auseinandersetzung am Zenit einer Clubnacht waren T und dessen Freunde auf der Suche nach O. Diesen wollten sie in eine Schlägerei verwickeln, damit er seine „Lektion lerne“. Hierzu fuhren sie mit einem PKW durch die Stadt, während sie lautstark schrien und sangen. Schließlich entdeckten sie O, der panisch vor ihnen – insbesondere dem T, der als Haupttäter auftritt – wegrannte. Da O nicht nur zahlenmäßig, sondern auch körperlich seinen Angreifern unterlegen war, suchte er ein passendes Versteck. Er brach daher durch eine Glastür in ein naheliegendes Wohngebäude ein. Beim Eintreten der Tür zog er sich jedoch eine so verheerende Schnittwunde zu, dass er innerhalb weniger Minuten verblutete, ohne dass ihn T überhaupt erreichen konnte.
Problem
Der Kern des Sachverhalts dreht sich um zwei wesentliche Aspekte. Zunächst einmal ist zu prüfen, ob sich T einer – ggf. gefährlichen – Körperverletzung strafbar gemacht hat. Im nächsten Schritt ist sodann der § 227 StGB zu erörtern. Bei letzterem ist vor allem der Prüfungspunkt des tatbestandsspezifischen Gefahrenzusammenhangs interessant.
Lösung
Körperverletzung
Dass eine gefährliche Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 4, 5 StGB zu prüfen ist, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung. Vielmehr ist fraglich, ob der Verletzungserfolg, sprich die Schnittwunde, dem T zurechenbar ist, bzw. ob dieser dahingehend vorsätzlich handelte. Die Nebenkläger vertraten in der Originalentscheidung die Ansicht, dass dies zu bejahen sei. Der BGH trat dem aber entgegen: Es liegt schon kein auf die Schnittwunde gerichteter Vorsatz vor; jedenfalls aber ist der tatsächliche Kausalverlauf vom vorgestellten so wesentlich abgewichen, dass eine Strafbarkeit nach vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung abzulehnen ist. Die Panikgefühle, welche in O hervorgerufen wurden, stellen schon keinen tauglichen Taterfolg dar.
Demgegenüber liegt aber eine versuchte Körperverletzung vor. T wollte den O körperlich misshandeln. Er hatte auch bereits unmittelbar angesetzt. Man könnte zwar annehmen, dass es an einer konkreten Gefährdung des Rechtsguts fehle – der BGH stellte aber hierzu klar, dass nicht erforderlich ist, dass bereits ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht wurde. Vielmehr reiche aus, dass T „Handlungen vornimmt, die nach seinem Tatplan der Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals vorgelagert sind und unmittelbar in die tatbestandliche Handlung einmünden“. Studenten werden hierin die „Jetzt geht es los“-Formel wiedererkennen.
Körperverletzung mit Todesfolge
Nun wird es aber wirklich interessant: Kann eine versuchte Körperverletzung mit Todesfolge gem. §§ 227, 22, 23 I StGB angenommen werden? Grundsätzlich braucht es für § 227 StGB eine Körperverletzung, die den Tod des Verletzten verursacht, während dem Täter Fahrlässigkeit bzgl. des Todes zur Last gelegt werden muss. Zwischen Körperverletzung und Tod muss ein tatbestandsspezifischer Gefahrenzusammenhang vorliegen.
Der BGH musste nun zunächst klarstellen, ob der § 227 StGB überhaupt mit einem Versuch „kombiniert“ werden kann, also ob ein erfolgsqualifizierter Versuch existiert. Dies ist i.E. zu bejahen. Es genüge nämlich laut Aussage des BGH, dass an die Körperverletzungshandlung, und eben nicht den Körperverletzungserfolg angeknüpft wird. Dies folgt daraus, dass die deliktsspezifische Gefahr bereits in der Handlung und nicht erst im Erfolg zu sehen ist.
Problematisch ist ferner der Umstand, dass O sich letztendlich selbst die Schnittwunde zugefügt und damit die den Tod verursachende Handlung begangen hat. Dies könnte den tatbestandsspezifischen Gefahrenzusammenhang entfallen lassen. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass O nur aufgrund der einschüchternden Handlung des T die Flucht „Hals über Kopf“ unternahm. Bei durch Gewalt und Drohung geprägten Straftaten ist ein solches Verhalten laut BGH gerade zu deliktstypisch. Es sei als naheliegende und nachvollziehbare Reaktion zu verstehen. Zwar ist im Einzelfall zu berücksichtigen, ob die Handlung des Opfers nun wirklich deliktstypisch ist – in der hiesigen Konstellation kann dies jedoch angenommen werden.
T hatte sich daher der versuchten Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht, §§ 227, 22, 23 I StGB.
Fazit
Die Körperverletzung mit Todesfolge enthält das exotische Tatbestandsmerkmal des tatbestandsspezifischen Gefahrenzusammenhangs. Dieses stellt eine Brücke zu einer möglicherweise wenigstens vollbefriedigenden Klausur dar, sollte die Argumentation überzeugen. Der Gubener Verfolgerfall eignet sich hervorragend, um eine entsprechende Klausurtaktik zu erlernen. Inhaltlich sollte insbesondere mitgenommen werden, dass ein selbstschädigendes Verhalten des Opfers nicht zwingend zum Ausschluss der Zurechenbarkeit führt und erfolgsqualifizierte Delikte auch im Versuch strafbar sind.
Entscheidung
BGH, 23.01.1958 – 4 StR 613/57 (JuS 2003, S. 503 ff.).